Die Waldeck als Ort der Kultur- und Demokratiegeschichte und ihr historisches Erbe
Zusammen mit anderen Wandervögeln entdeckten Anfang der 1920er-Jahre die Zwillingsbrüder Robert und Karl Oelbermann die Ruine der Burg Waldeck im Hunsrück (Rheinland-Pfalz). Sie gründeten den Nerother Wandervogel und kauften das Gelände, um hier ihre rheinische Jugendburg zu errichten. Bekannt wurde der Nerother Wandervogel durch seine Fahrten. In den 1920er und 1930er-Jahren reisten sie fast ohne Geld durch viele Staaten Europas (Italien, Schweden, Lappland, Griechenland, Russland, Finnland …), fuhren 1925 nach Ägypten und 1927 nach Indien. In Indien besuchten sie den ersten indischen Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore, der dann 1930 zum Gegenbesuch auf die Waldeck kam (eine von nur drei Stationen in Europa!). Der Höhepunkt dieser Fahrten war die Weltfahrt einer Gruppe der Nerother von 1931-1933 die sie u.a. nach Süd- und Nordamerika und Asien führte.
Der Nerother Wandervogel finanzierte die Fahrten durch einstudierte Theaterstücke, Singen und Musizieren und selbst gedrehte Kulturfilme, die die Nerother selber in Dörfern und Städten zeigten oder die in Kinos in Deutschland im Vorprogramm liefen. Der Nerother Wandervogel war, neben der dj.1.11, einer der Stil prägendsten Bünde innerhalb der Jugendbewegung seiner Zeit.
Auch wenn die Gründer des Nerother Wandervogels sich als Deutschnationale verstanden, gab es im Bund sehr unterschiedliche politische Auffassungen, die auch zugelassen wurden, und der Nerother Wandervogel war der einzige deutsche, jugendbewegte Bund, der auch Juden in seinen Reihen aufnahm und gleichberechtigt behandelte.
1933 wurde der Nerother Wandervogel wie alle Bünde der dt. Jugendbewegung verboten. Um das Eigentum des Nerother Wandervogels vor dem Zugriff des NS-Staates zu retten, wurde 1934 die Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW) gegründet. Dies gelang nicht, die ABW erhielt erst nach dem Krieg das Gelände und die verwüsteten Gebäude zurück. Einige Nerother wurden von den Nationalsozialisten verhaftet und in Gefängnissen und KZs interniert. Robert Oelbermann war lange Zeit im KZ Sachsenhausen und wurde im KZ Dachau ermordet.
Stilistisch und auch mit Ihren Liedern referenzierten u. a. die Edelweißpiraten als unangepasste und oppositionelle Jugendliche im Dritten Reich auf die Bündische Jugend und insbesondere auf den Nerother Wandervogel.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verwandelte die ABW die Burg Waldeck in eine wichtige Kulturstätte für musische Aktivitäten und Völkerverständigung mit einem jugendbezogenen Tagungshausbetrieb und regelmäßigen Konzertveranstaltungen.
Der Ort steht u. a. für die geistesgeschichtliche Auseinandersetzung zwischen Gefolgschafts- und Demokratieprinzip. Diese, nicht immer widerspruchsfreie und oftmals harte Auseinandersetzung, ist in den Archivalien des AdABW dokumentiert. Das betrifft insbesondere die Vorgeschichte und die Zeit der legendären Festivals in den 1960er Jahren. Gleichwohl wird immer wieder auf den Zeitraum der Weimarer Republik und auf die Verbotszeit während des Nationalsozialismus zurückgegriffen werden müssen. Da es schon in diesen Zeiträumen um die Freiheit und den Kampf um Freiräume ging.
Die Öffnung der Waldeck führte zu langjährigen gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Nerother Bund um das Gelände. Die ABW gewann diesen Rechtsstreit.
Die Öffnung der ABW zeigte sich dann u. a. daran, dass ein studentischer Arbeitskreis der ABW (geprägt durch viele Jungenschaftler) von 1964 bis 1969 die legendären Burg-Waldeck-Festivals initiierte und organisierte. Es waren die ersten Open-Air-Festivals in Deutschland. Sie leiteten einen entscheidenden Abschnitt in der deutschen Folk- und Musikgeschichte ein.
Durch diese internationalen Chanson- und Folklore-Festivals wurde die Waldeck auch der Startpunkt für die Entwicklung eines neuen, deutschsprachigen Liedermachertums. Heute nicht mehr wegzudenkende Musiker wie z. B. Franz-Josef Degenhardt, Hannes Wader, Reinhard Mey und Hanns-Dieter Hüsch oder Schobert & Black starteten hier ihre Karrieren. Das, was sich gesamtgesellschaftlich abspielte – der Aufbruch der jungen Menschen, die Forderung nach mehr Freiheit und Demokratie und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, war im Mikrokosmos Waldeck zu erleben.
Der leider schon mit 33 Jahren verstorbene Liedermacher Peter Rohland entdeckte in dieser Zeit für den deutschsprachigen Raum die jiddischen Lieder, die Landstreicherlieder und die Lieder deutscher Demokraten (1848er Lieder) wieder und machte sie bekannt.
Die ABW verstand die Waldeck nach 1945 immer als ein Ort der Kultur: Musik, Theater und Literatur. Gleichzeitig war die Waldeck ein Ort, in dem die gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart und ihre demokratische Entwicklung eine große Rolle spielen und weiterhin spielen und auch intensiv verhandelt wurden. Einige Beispiele: Beteiligung an der Friedensbewegung in der 1960er und 1980er-Jahren, Veranstaltungen und Tagungen u. a. Schriftsteller im Exil, Deutsch – Deutsches Schriftstellertreffen, über die revolutionären Bewegungen Deutschlands im Vormärz, den politischen Heine und die Jakobiner in Deutschland mit Prof. Walter Grab aus Israel. Des Weiteren referierte der Historiker und Schriftsteller Arno Lustiger über den jüdischen Widerstand gegen den Faschismus, und es gab eine mehrtägige Tagung zum Umgang mit rechtsradikalen Jugendbünden u. a. mit Prof. Dr. Roland Eckert, Dr. Gideon Botsch und Dr. Wolfgang Gessenharter. Diese unvollständige Liste von Veranstaltungen stand immer unter dem Blickwinkel gelebter Demokratie.
In der Gegenwart und in der Geschichte der Waldeck wird immer wieder die Verbindung zur Vergangenheit (Jugendbewegung vor 1945) sichtbar. Ein Beispiel: Der Waldecker Willi Knoob (genannt Knöbchen), der wie Robert Oelbermann verhaftet und ins KZ gesteckt wurde. Er überlebte diese Zeit und es gelang ihm, nach seiner Entlassung ins Exil zu gehen. Nach dem Krieg war er lange Jahre im Auswärtigen Amt und ehrenamtlich in der ABW auf der Burg Waldeck tätig.
Feste Bestandteile des Jahresprogramms der Burg Waldeck sind heutzutage die Waldecker Open Air-Festivals, der Peter-Rohland-Singewettstreit und das Freakquenz-Festival. Dazu kommt eine Reihe von Lesungen, Theater-, Musik- und Diskussionsveranstaltungen und Seminare oder Workshops.
Die Waldeck war und ist somit ein lebendiger Gedächtnisort für die deutsche Kultur- und Geistes- und Demokratiegeschichte, der im Archiv der ABW dokumentiert wird.
Sammlungsschwerpunkte des AdABW
Das Archiv der ABW sammelt Material aus der Deutschen Jugendbewegung (Schwerpunkte: Nerother Wandervogel und Jungenschaften) und der Geschichte der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck.
Im Archiv der ABW lagern und werden erschlossen:
- rund 200 Regalmeter mit Schriftstücken zur Geschichte und Gegenwart der Jugendbewegung
- rund 2500 Bücher zur Jugendbewegung, zur ABW, Liederbücher …
- Vor- und Nachlässe
- Fahnen, Wimpel, Barette, Kluften von jugendbewegten Gruppen.
- Rund 2000 CDs und andere Tonträger mit jugendbewegten Aufnahmen und von Liedermachern.
- Fotos, Filme und Videos von den 1920er-Jahren bis heute.
- Zeitschriften der deutschen Jugendbewegung.
- Zeichnungen und Gemälde von Künstler:innen die auf der Waldeck aktiv waren
- Plakate
- Besonders wertvolle Archivalien (Beispiele) sind der Weltfahrerpass (Gemeinschaftspass der ganzen Gruppe), die Fahne der dj.1.11 und die Fotobände und handgeschriebenen Fahrten- und Liederbücher von jugendbewegten Gruppen und Einzelpersonen.
Ausstattung des AdABW
Das Archiv ist ausgestattet mit
- Rollregalen
- zwei Computerarbeitsplätze mit einem Laserdrucker
- mehreren Scannern für die unterschiedlichen Anforderungen der Archivarbeit
- einen Reproeinheit mit Kamera
- Foto- und Filmkamera
- professionellen Mikrofone für Interviews
- zwei großen Glasvitrinen
- Arbeitsmaterialien für die professionelle Archivarbeit
- eine professionelle Klimaüberwachung
- Folien an den Fenstern, die sowohl die Temperatur im Archiv senkt, wie auch die UV-Strahlen unschädlich machen.
Die Digitalisate werden auf einem Server gesichert und an anderer Stelle gespiegelt.
Infos zum Archiv werden publiziert auf der Website der ABW.
Geplant ist ein Webauftritt des AdABW auf den Archivseiten der Burg Ludwigstein. Dort wird dann auch eine Recherche nach den Sammlungen des AdABW möglich sein.
Finanzierung des AdABW
Die Archivare Josef Haverkamp (josch) und Karl Zimmermann arbeiten ehrenamtlich im Archiv.
Es gibt für die Archivarbeiten keine feste Finanzierung, daher sind wir auf Förderungen und Spenden angewiesen. In den letzten drei Jahren ist es uns gelungen, mehrere Förderungen zu erhalten: durch die Verbandsgemeinde Kastellaun, die Lokale Aktionsgruppe Hunsrück c/o Regionalrat Wirtschaft Rhein-Hunsrück e.V., die Peter Rohland Stiftung, die Landesstelle Bestandserhaltung in RLP (LBE) und durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte. Zudem erhielten wir einige Einzelspenden und tatkräftige Unterstützung aus der ABW und dem Umfeld der Waldeck.
Durch die Förderungen und Spenden war möglich, dass AdABW so auszustatten, dass wir die inhaltliche Arbeit im Archiv vorantreiben können.
Zur Archivgeschichte
Gesammelt wurden Erinnerungen an die Waldeck schon lange Zeit. Systematisch in einem Archiv gesammelt wurden dann ab 1985 die Archivalien von Dunja zur Mühlen und Peer Krolle. Auf Dauer wurde dann Peer der alleinige Archivar. Für seine Archivarbeit wurde er 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Im Laufe der Zeit haben einige Mitglieder der ABW im Archiv mitgearbeitet. Ihnen allen ist zu verdanken, dass die Sammlung kontinuierlich wuchs.
2022 übernahmen dann Josef Haverkamp (josch) und Karl Zimmermann das AdABW von Peer Krolle.
Schritt für Schritt stellten sie das Archiv auf professionelle Füße: Der Archivraum wurde renoviert, Rollregale beschafft und eingebaut, ein Plakatschrank besorgt (Spende), Archivboxen und anderes Arbeitsmaterial für das Archiv gekauft, zwei Computerarbeitsplätze eingerichtet, Scanner und eine Reproeinheit gekauft, die Archivalien gereinigt und in die Archivboxen umgebettet … und viele Dokumente, Zeitschriften und Tonaufnahmen digitalisiert.
In 2025 konnten wir erstmals einen Werkvertrag mit einer Werkstudentin abschließen (300 Arbeitsstunden), um gemeinsam an der weiteren Teildigitalisierung des Archivs zu arbeiten (Förderung durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte).
Kontakt
Josef Haverkamp (josch)
Karl Zimmermann
archiv@burg-waldeck.de
Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck
Archiv (AdABW)
Burg Waldeck 1
56290 Dorweiler